Spirale der Entschleunigung
werk, bauen + wohnen – Treppen | 4/2020
Im Zentrum einer offenen Bürolandschaft bildet die Skulptur der weit schwingenden Treppenspirale einen gefassten, sakral anmutenden Raum eigener Art.
Wer in die Industriezone von Steinhausen einbiegt, erwartet dort nichts Besonderes: Gewerbe, Büroklumpen und Parkplätze schauen einander bezugslos an – wie überall. Doch aus der grauen Tristesse sticht ein strahlend weisser Würfel hervor: rückwärtig hart an die Autobahn A4 gerückt, lässt er vor sich Raum frei für einen veritablen Park. Transparent, feingliedrig und fast schwerelos blickt er auf den weiten Freiraum zu seinen Füssen.
Eine Raum wie eine Kuppel
Im Inneren empfängt überraschenderweise nicht blendende Helligkeit, sondern gedämpftes Licht und Schwere des Materials: Als wäre ein urweltliches Riesenreptil in den Käfig der Eingangshalle gesperrt, windet sich in trägem Schwung ein massiver Körper aus Beton von weit oben herab: die enorme Treppe, die das ganze Haus zu erfüllen scheint und sich hier am Eingang zu einem freundlichen Antritt weitet. Geht man an diesem vorbei, öffnet sich der Blick in ein Treppenauge, wie man es noch nie zuvor gesehen hat: Es ist ein Raum von eigener Prägung, eine Kuppel, geformt von den in weitem, elliptischem Schwung sanft ansteigenden Treppenläufen aus schwerem Ortbeton, die von Geschoss zu Geschoss ihre Hauptrichtung ändern, sodass ihre Linien sich im von oben einfallenden Licht schneiden, während ihre Schatten verschmelzen. Wer hier steht, fühlt die Masse des Betons ebenso wie die Leichtigkeit des Lichts, das den Blick nach oben zieht, er fühlt sich umfangen und emporgehoben zugleich: ein andächtiges, geradezu sakrales Gefühl stellt sich ein.
So schreiten Könige
Betritt man die Treppe, um nach oben zu gelangen, erweist sie sich mit ihrer geringen Neigung als eine Art Rampe; ihre niedrigen Stufen verlangsamen den Gang zu einem gemessenen Schreiten. Die elliptische Form bewirkt subtil wechselnde Radien und damit auch Trittlängen, an die sich der Schritt anpasst: Der Gang über diese Treppe verwandelt den Gehenden, er entschleunigt ihn und schärft seine Aufmerksamkeit. So gehen Könige, denkt man. Von Geschoss zu Geschoss vermehrt sich das Licht; der Blick schweift in die Weite der offenen Bürogeschosse, doch die Treppe läuft weiter, kein Absatz unterbricht ihr Kreisen, sie führt unentwegt weiter dem Licht entgegen.
Man muss nicht unbedingt an Frank Lloyd Wrights Guggenheim Museum denken, wenn man diesen so eminent sakral anmutenden Treppenraum betritt. Im Werk des Zürcher Architekten Thomas Hildebrand selbst gibt es einen verwandten Entwurf, der vor zehn Jahren schon bezauberte: die leider nie realisierte katholische Kirche St. Thomas in Inwil ZG von 2010 (zusammen mit Rafael Ruprecht); ein Raum geprägt von sieben aufeinander liegenden und sich verjüngenden Ellypsen, aufgeladen mit vielschichtiger symbolischer Bedeutung.
Das zentrale Thema jenes Raums hat im Atrium des durch und durch profanen Geschäftshauses eine neue Interpretation gefunden. Nicht der inneren Sammlung im Gebet dient er hier, sondern vielmehr der Versammlung einer grossen Schar von Mitarbeitenden: als symbolischer Mittelpunkt, als Ort der Begegnung – und auch zur Entschleunigung im hektischen Alltag. Der ursprünglich deutsche Ferienanbieter Hapimag funktioniert in der Art eines Klubs: Seine 125’000 Aktionäre sind Miteigentümer von Resorts in aller Welt – ein durchaus nachhaltiges Geschäftsmodell, das den Gedanken des Teilens oder Sharing pflegt und gut ausgelastete Ferienwohnungen garantiert. In jüngster Zeit wird es freilich von digitalen Plattformen wie Airbnb herausgefordert. Im weissen Würfel an der Autobahn hat sich die traditionsreiche Firma nun zumindest räumlich neu erfunden, um sich für ein neues Image von Transparenz und Kollaboration zu öffnen.